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Der lange Arm von Erdogan

"Der Riss geht durch Freundeskreise, sogar durch Familien". Das sagt ein Türke aus dem Hochstift im Radio Hochstift-Gespräch. Es geht um den Konflikt zwischen dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seinem ehemaligen Mentor Fethullah Gülen bzw. um den Konflikt zwischen den Anhängerinnen und Anhängern der beiden mächtigen Männer. Dieser Streit findet nicht nur in der Türkei statt. Auch in der türkischen Community im Hochstift gibt es massive Meinungsverschiedenheiten. Gülen-Anhängerinnen und Anhänger und andere türkische Oppositionelle müssen auch in unseren beiden Kreisen Paderborn und Höxter täglich mit Anfeindungen rechnen.

Auf dieser Seite wollen wir zeigen, welche Auswirkungen der Erdogan-Gülen-Konflikt bis ins Hochstift hat. So müssen einige Türkinnen und Türken, die im Hochstift leben und der Gülen-Bewegung nahestehen, mit einer Festnahme rechnen, wenn sie in ihr Heimatland reisen. Seit dem Putsch-Versuch im Juli 2016 wird die Gülen-Bewegung in der Türkei als Terrororganisation eingestuft. Im öffentlichen Meinungsaustausch wird nur noch von der FETÖ, der Fethullah-Terrororganisation, gesprochen.

Und auch im Hochstift haben Gülen-Anhängerinnen und Anhänger Angst. Einige wollen im Radio Hochstift-Gespräch nicht zitiert werden, andere leugnen sogar ihre Sympathien für die Gülen-Bewegung, obwohl sie nachweislich mehrfach an Treffen der Bewegung teilnahmen.


"Freunde beschimpften mich plötzlich als Terrorist. Ich habe gesagt: Du kennst mich. Du kennst meine Kinder. Was habe ich mit Terrorismus zu tun?" (Paderborner Türke, der der Gülen-Bewegung nahesteht)


"Ich reise nicht mehr in die Türkei. Ich habe Angst."

Ali E. (Name geändert) lebt im Kreis Paderborn. Auch wenn seine Eltern nicht in der Türkei leben: Bis zum Jahr 2016 ist der Deutsch-Türke immer gerne in die Türkei gereist. Seit dem Putsch war er nicht mehr dort. Aber nicht nur das: Er spricht im öffentlichen Raum mittlerweile nur noch ungerne über Politik, wenn er nicht weiß, wie sein Gegenüber tickt. Er meidet Orte, auch im Kreis Paderborn, weil er Konflikte fürchtet. Der Grund: Er engagiert sich in den Strukturen der Gülen-Bewegung. Wir haben mit ihm ein langes Interview geführt.
 

RH: Seit dem Putsch-Versuch im Juli 2016 reisen Sie nicht mehr in die Türkei, warum nicht?
Ali E.: "Wir haben den langen Arm von Erdogan auf jeden Fall zu spüren bekommen, auch in unserer Urlaubsplanung. Früher vor dem Putschversuch habe ich versucht jedes Jahr in die Türkei zu reisen, aber mittlerweile wird man, wenn man Erdogan nicht unterstützt, nicht nur als Gegner, Gegner klingt ja harmlos, aber als Terrorist abgestempelt. Also man hat Angst in der Türkei festgenommen zu werden und das ist der einzige Grund."


RH: Woher kommt diese Befürchtung bei Ihnen?
Ali E.: "Also erstens, es gibt in der Türkei seit einigen Jahren eine Hexenjagd gegen Anhänger der Gülen-Bewegung. Wenn man in der Türkei irgendetwas mit einer Gülen-nahen Einrichtung oder Akademie oder irgendeiner Bildungsinstitution zu tun hatte, dann muss man mit Problemen rechnen. Der zweite ist, dass man von Leuten, von Freunden, gehört hat, dass die am Flughafen oder bei der Einreise angehalten wurden. Einige saßen ein paar Tage in Untersuchungshaft. Das schreckt natürlich ab."

Hier könnt ihr weiterlesen: Unser komplettes Interview mit einem Gülen-Anhänger aus dem Kreis Paderborn.

Und hier gibt's das Interview zum Nachhören:


Fethullah Gülen wird 1941 in der Türkei geboren. Er ist das geistliche Oberhaupt der Gülen-Bewegung (bzw. Hizmet-Bewegung). Bis 1981 arbeitete er als Prediger im Staatsdienst - anschließend widmete er sich ganz der Bewegung. Er gründete mehrere hundert Privatschulen und Studentenheime - erst in den sogenannten Turkstaaten, später weltweit.

Seit 1999 lebt er im selbstgewählten Exil in den USA.

Weltweit soll die Gülen-Bewegung nach Schätzungen vier Millionen Mitglieder haben. Die Anhängerinnen und Anhänger sehen in Fethullah Gülen einen wichtigen islamischen Gelehrten mit liberalen Ideen und interreligiösen Dialogabsichten.

Ercan Karakoyun ist Vorsitzender der Stiftung Dialog und Bildung und das Gesicht der Gülen-Bewegung in Deutschland. Er hat das Buch Die Gülen-Bewegung. Was sie ist, was sie will veröffentlicht.

"Zumindest in der Türkei hat die Gülen-Bewegung in den vergangenen Jahrzehnten in ihrem Machtstreben und ihrer Intransparenz sektiererische Züge erkennen lassen. Es gilt mittlerweile als gesichert, dass ihre Anhänger tatsächlich Teile des türkischen Justizapparats, insbesondere durch Richter, Staatsanwälte und Polizisten, unterwandert hatten. Anfangs geschah dies mit Billigung der AKP [...]."

(Martens, Michael: Der gescheiterte Putschversuch und seine Folgen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. www.bpb.de, Februar 2017).

"Die meisten Menschen in der Türkei schliefen schon, als in Istanbul und Ankara in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 die Panzer auf die Straßen rollten. Es war das erste Mal seit mehr als 35 Jahren, dass die türkische Armee – oder zumindest ein Teil von ihr – gewaltsam die Kontrolle über das Land zu übernehmen suchte. [...] Nur ein Teil der Streitkräfte schloss sich den Verschwörern an, die Mehrheit aber stand wie der Großteil der Bevölkerung loyal zur gewählten Regierung und zu Recep Tayyip Erdogan, dem Staatspräsidenten. Auch deshalb brach der Umsturzversuch schon nach wenigen Stunden in sich zusammen."

"Bis heute sind viele Fragen jener Nacht ungeklärt. Warum bombardierten Kampfflieger das Parlament, nicht aber den Präsidentenpalast, das Zentrum der Macht in der Türkei? Warum versuchten die Putschisten nicht gleich zu Beginn ihres Aufstands, Erdogan zu verhaften oder zu töten?

Fest steht für alle kundigen Beobachter allerdings: Eine Inszenierung war der Putschversuch vom 15. Juli 2016 nicht. Selbst die Oppositionsparteien in Ankara, professionelle türkische Journalistinnen, Menschenrechtler, ausländische Diplomaten oder andere den Machthabern in der Türkei kritisch gesinnte Geister bestätigen das. Allerdings trifft es auch zu, dass die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) schon lange vor dem Putschversuch, den Erdogan ein "Geschenk Allahs" nannte, einen Schlag gegen ihre Gegner vorbereitet hatte."

(Martens, Michael: Der gescheiterte Putschversuch und seine Folgen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. www.bpb.de, Februar 2017).


Familienstreit um Gülen-Bewegung: Paderborner Anwalt soll Ausreise verhindern

Wolfgang Weigel ist Anwalt und seit Jahrzehnten im Geschäft. Vergangenes Jahr (2023) hatte der Paderborner Jurist allerdings einen Fall auf dem Tisch, der ihm in dieser Form noch nicht begegnet war.

Eine Mandantin wollte verhindern, dass ihr Ex-Mann den gemeinsamen 16-jährigen Sohn in die USA reisen lässt. Die Befürchtung der Türkin aus dem Kreis Paderborn: In den USA soll der Sohn mit den Ansichten der Gülen-Bewegung 'versorgt' werden.

Der 73-Jährige, der seit 2008 auch Vorsitzender der Deutsch-Türkischen-Gesellschaft in Paderborn ist, hat uns die ganze Geschichte erzählt:


Türken im Hochstift

In den Kreisen Paderborn und Höxter gibt es seit Jahrzehnten eine große türkische Community. Gut 4.500 Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit, das heißt mit türkischem Pass, leben aktuell im Hochstift (Stand März 2024).
 

Hinzu kommen tausende Menschen mit türkischen Wurzeln. Zwar können die Behörden keine genaue Zahl nennen. Allein in Paderborn leben aber, laut des Vorsitzenden des Integrationsrates Recep Alpan, fast 5.000 türkischstämmige Menschen. In Bad Lippspringe sind es bspw. 500 Menschen mit türkischen Wurzeln.

In den vergangenen Jahren, insbesondere in den Jahren nach dem Putsch-Versuch im Jahr 2016, haben immer mehr Menschen die Türkei verlassen - das zeigt auch die Zahl an Geflüchteten, die bspw. in Paderborn ankamen und in den offiziellen Statistiken auftauchen.


Paderborner Gülen-Anhänger in Türkei vor Gericht

Seit dem Sommer 2023 berichten türkische Medien immer wieder über die Festnahme und den Prozess gegen einen Mann aus Paderborn. Am 24.06.2023 wird M.Y. in der türkischen Stadt Adana festgenommen.

Nur gut einen Monat später steht bereits die Anklage. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation vor. Konkret: Er soll die Treffen der Gülen-Bewegung in Paderborn organisiert haben bzw., wie es die türkische Justiz ausdrückt: die Treffen der Fetullah Terrorist Organization (FETO/FETÖ).

M.Y. würde bei einer Verurteilung eine Strafe zwischen sieben und 15 Jahren Haft erwarten.

Ein Zeuge sagte vor Gericht aus:

„M.Y. gab an, dass es um religiöse Themen ginge und lud mich zu einem Gespräch ein. Zuerst ging ich in ein Gebäude in Paderborn, das der Organisation als Studienzentrum diente. [...] M.Y. ist FETOs höchstrangiger Beamter in Paderborn. Mitglieder der Organisation nannten ihn „Bruder“."

Im Dezember 2023 fand laut türkischer Medien die erste Anhörung von M.Y. vor dem Obersten Strafgerichtshof in Adana statt. M.Y. wurde, aus dem Gefängnis heraus, über ein Audio- und Video-Informationssystem zugeschaltet. In den Prozessberichten wurde er mit folgenden Worten zitiert:

„Ich habe kein Personal für FETO rekrutiert. Zeugenaussagen über mich spiegeln nicht die Wahrheit wider. Ich bin seit langer Zeit inhaftiert. Ich fordere meine Freilassung und meinen Freispruch.“

Und tatsächlich: M.Y. wird anschließend freigelassen - er muss also nicht mehr in Untersuchungshaft sitzen. Das Gericht ordnet aber eine Kontrollmaßnahme an. Um was es sich dabei konkret handelt, bleibt unklar.

Nach Radio Hochstift-Exklusivinfos ist der Mann mittlerweile wieder in Deutschland. Paderborn hat er aber schon vor Jahren verlassen.

Die Geschichte eines politischen Flüchtlings

Mehmet D. (Name geändert) lebt bereits seit einigen Jahren im Kreis Paderborn. Zum ersten Mal erzählt er jetzt öffentlich seine Geschichte. Die Geschichte eines politischen Flüchtlings. Der 39-Jährige arbeitete unter anderem im türkischen Innenministerium, sein Vater war einer der ranghöchsten Polizisten der Türkei.

„Nach meinem Studium habe ich in der Türkei in drei verschiedenen staatlichen Institutionen gearbeitet. Obwohl ich durchschnittlich zwölf bis 13 Stunden am Tag arbeitete, liebte ich meinen Job sehr. Aber irgendwann begann eine Hexenjagd politischer Oppositioneller. Für jemanden, der seit seiner Kindheit mit Staatsdisziplin vertraut ist, war es unmöglich, einfach nur zuzusehen.

Mein Vater, der wichtige Positionen bei der türkischen Polizei innegehabt hatte und später in den höchsten Regierungsämtern tätig war, wurde ins Gefängnis geworfen. Auch gegen mich wurde Haftbefehl erlassen, und dies wurde in allen führenden Zeitungen der Türkei veröffentlicht. Ich habe jahrelang in den Strafverfolgungsbehörden gearbeitet, jetzt war ich ein Flüchtling.

Für sehr viel Geld sind wir über Griechenland nach Deutschland geflüchtet. Es war kein einfacher Übergang, insgesamt mussten wir etwa zehn Stunden, manchmal kriechend und manchmal rennend, mit unseren beiden Babys im Regen gehen, einer der schwierigsten Tage meines Lebens.


Literaturtipp

Wenn ihr mehr über das Leben von Recep Tayyip Erdogan und damit auch mehr über die wechselhafte Geschichte der Türkei erfahren wollt, empfehlen wir euch das Graphic Novel Erdogan:

Es ist im Shop des Recherchenetzwerks Correctiv erhältlich. Auf der Verlagshomepage heißt es unter anderem:

"Das Buch erklärt, es verurteilt nicht. Es ist ein Beitrag zur Aufklärung über die politische Türkei. Das Werk überrascht, fasziniert und ernüchtert."


Feedback und Fragen

Ihr habt Fragen zu dieser Geschichte? Ihr wollt einen Kommentar abgeben? Gerne! Schreibt einfach eine Mail an tobias.fenneker@radiohochstift.de.


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